Andrej Krementschouk fotografiert Menschen und Landschaften in der verstrahlten Zone um Tschernobyl

Heidelberg/Mannheim, 23.03.11 - Andrej Kremetschouk, der seine erste Ausstellung zu diesem Thema in Mannheim vorbereitete - sie läuft noch bis 31. Juli 2011 - und die für April und Mai geplante Herausgabe seiner beiden Fotobände bei Kehrer Heidelberg vorbereitet, zeigt sich sprachlos zu den Ereignissen um die Atomkraftwerke in Japan.

Er frage sich angesichts der Bilder dieser schrecklichen Tragödie oft, ob seine Arbeit nicht zu einer Romantisierung der Katastrophe von Tschernobyl beiträgt. Er bemerke bei seinen Bildern jetzt eine andere "surreale Schönheit": Dass sich die Natur unbeschadet alles Leben zurückhole, von den Städten Tschernobyl und Prybjat immer mehr verschwinde.


Foto: Andrej Krementschouks aus Chernobyl Zone (II) /
hfr Kehrer-Verlag, Heidelberg


In erster Linie interessierten ihn bei seinen Reisen dorthin aber immer die Menschen, warum sie dorthin zurückkehrten, diese Gegend als Heimat betrachten und dort trotz Radioaktivität gerne leben. Man spreche nicht über Radioaktivität. Für eine alte Frau, mit der er vor dem Haus ihrer Mutter stand, war Radioaktivität nicht nachvollziehbar und auch nicht zu verstehen, daß es damals in ihrem Dorf, in dem man so glücklich und prachtvoll gelebt habe, plötzlich alles verwüstet und nichts mehr von dem war, wie es einmal war.

Er besuchte zwei Männer, die nur einen Kilometer von der Atomruine leben. Sie sahen damals das Inferno aus unmittelbarer Nähe, wurden evakuiert und unternahmen alles, um zwei Tage später wieder zurückzukehren. Sie konnten sich nicht vorstellen, irgendwo außerhalb ihres eigenen Hauses zu sein und leben nun seit 25 Jahren in dem unglaublich verstrahlten Gebiet, wo Menschen eigentlich nicht leben dürfen.

Es begann alles ganz harmlos. Kurz nach Beendigung seines Studiums bekam Andrej Krementschouk seinen ersten Auftrag, mit einer Kollegin eine Reportage über weissrussische Küche zu machen. Die Neugier veranlasste die Kollegin, das in der Nähe liegende Tschernobyl zu besichtigen. Es kostete viel Überredungskunst, auch von der beauftragenden Redaktion, bis er dann mitfuhr. Die freundliche Begegnung mit den unerschrockenen Menschen, die Gastfreundschaft, den Frieden, den sie dort leben, nahmen dem jungen Fotografen allmählich die anfänglich große Angst, auch um seine Gesundheit. Im Laufe der Zeit wusste er seine Aufenthaltszeiten in den verstrahlten Gebieten einzuschätzen, auch mit Hilfe eines Geigerzählers, den er sich anschaffte. Schutzkleidung oder ähnliches lehne er strikt ab, man könne den Menschen doch nicht in "Kassandra-Look" begegnen. Er habe damals auf weissrussischer Seite angefangen und seine Besuche führten ihn immer weiter an die abgesperrten Gebiete.

Dann sei er irgendwann auf ukrainischer Seite gelandet. Entgegen allen Vorhersagen, man würde dort nur auf zurückgezogene Menschen treffen, erlebte gegenteilig, daß sie sehr offen waren. Immer im Gedanken, jede Sekunde dieser Strahlung ausgesetzt zu sein, war zu seinem Bedauern oft eine Lüge erforderlich, Einladungen an deren reich gedeckten Tisch abzulehnen oder zeitlich einzuschränken.

Letztlich fühle er sich dort in der Zeit um 25 Jahre zurückversetzt. Es sei eine Reise in die Vergangenheit. Man glaubt in einem Film zu sein und deren Kulisse zu erleben. Überall diese alten sowjetischen Plakate, es sei auch ein Teil seiner Kindheit. Er sei einfach fasziniert und betrachte jeden Menschen, dem er dort begegnete, als eine besondere Persönlichkeit, in die man sich verlieben könne. Und er meinte damit wieder diese alte Frau, die er zu schätzen gelernt habe.

© Walter Domscheit



Krementschouk, Andrej

(*2. Mai 1973 in Gorki (heute Nischni Nowgorod)), ist ein russischer Fotograf. Er lebt und arbeitet in Leipzig. Seit 2009 ist er Mitglied der Berliner Fotoagentur „Ostkreuz“. Er absolvierte eine Lehre als Restaurator von Ikonen und Metall-Kunstgegenständen an der Hochschule für Kunst und Restaurierung in Susdal. Von 1991 bis 1995 studierte er in Wladimir am Konservatorium und legte das Diplom als Chorleiter ab. Von 1991 bis 1997 arbeitete er als freischaffender Goldschmied und Restaurator von Ikonen. Andrej Krementschouk studierte Illustration und Kommunikationsdesign mit dem Schwerpunkt Fotografie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg. Sein erstes Buch „No Direction Home“ bekam mehrere Auszeichnungen und internationale Aufmerksamkeit.


Veröffentlichungen im Kehrer-Verlag Heidelberg
Andrej Krementschouk
Chernobyl Zone (I)

Neuerscheinung im April 2011 bei Kehrer, Heidelberg
Festeinband, Limitierte Auflage, ca. 38 x 27 cm, ca. 96 Seiten, ca. 64 Farbabb.

ISBN 978-3-86828-200-9, 58 Euro

Andrej Krementschouk
Chernobyl Zone (II)

Neuerscheinung im Mai 2011 bei Kehrer, Heidelberg
Broschur, ca. 25 x 20 cm, ca. 120 Seiten, ca. 60 Farbabb., Deutsch / Englisch
Texte von Andrej Krementschouk, Thomas Schirmböck, Wolfgang Kil
ISBN 978-3-86828-210-8, ca. 25 Euro

Ausstellungen
Zone – Heimat. Tschernobyl
Reiss-Engelhorn-Museen, Zephyr – Raum für Fotografie im Museum Bassermannhaus,
Mannheim, noch bis 31. Juli 2011

"Heimat - Tschernobyl"
Galerie Clara Maria Sels, Poststraße 3, Düsseldorf , 9.4.-4.6.11
Vernissage am 8. April, 19 Uhr, .

Die Straße der Enthusiasten "http://www.boell.de/oekologie/klima/klima-energie-die-strasse-der-enthusiasten-werke-11399.html) *)
eine Ausstellung der Heinrich-Böll-Stiftung und des Morats-Instituts mit Robert Polidori, Sergej Nekhajew et al.; Berlin, Kiew, Warschau, Gartow, Freiburg, Hamburg.
Ab 12. April 2011 bis Oktober 2011

Tschernobyl
Galerie Maria Sels, Düsseldorf 8. April – Juni 2011

*) Die Stadt Prypjat wurde 1970 für die im Atomkraftwerk Tschernobyl Beschäftigten gebaut. Eine hochmoderne, junge, sowjetische Modell-Stadt mit 48.000 Einwohnern, viereinhalb Kilometer vom hochmodernen Modell-AKW entfernt. Nur sechzehn Jahre später wurden sämtliche Bewohner der verstrahlten Stadt evakuiert, die Stadtgeschichte war zu Ende. Seither ist Prypjat eine menschenleere Stadt.

Eine wichtige Straße in Prypjat heißt "Straße der Enthusiasten". Die Stadtgründer zogen im Jahr 1970 (Breschnew-Ära) ganz selbstverständlich eine Traditionslinie von der aktuellen Begeisterung für das Perpetuum Mobile Atomkraft hin zum historischen Enthusiasmus der ersten sowjetischen Industrialisierung (Fünfjahresplan 1927-1932), also zu jenem quasireligiösen, fortschrittsgläubigen Eifer, der die Massenmobilisierung des Stalinismus charakterisiert.

Die Ausstellung besteht aus drei Teilen: (" Prypjat.1 – Die Zone", "Prypjat.2 – Atomgrad" und "Echo aus Charkow – Eco-Poster"

Prypjat.1 – Die Zone
Zwei außergewöhnliche Fotografen erkunden die menschenleere Stadt Prypjat und die verlassenen Dörfer der Zone. Der Ältere (Robert Polidori) konstatiert Zerstörung und Verfall, streng, dokumentarisch. Für den Jüngeren (Andrij Krementschouk) ist Tschernobyl eine vollendete Tatsache, er schaut sich um und sucht die Begegnung mit Menschen. Zwischen den beiden Fotoserien erschließt sich eine dritte Sichtweise, ausgedrückt in Versen der ukrainischen Dichterin Lina Kostenko - zwei Quatrains aus ihrer Sammlung "Kurz wie die Diagnose". Im Gegensatz zu den zugereisten Fotografen weiß sie genau, was sie in der Zone verloren hat.
(Quelle: Heinrich-Böll-Stiftung)

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